Völkische Wissenschaften: Ursprünge, Ideologien und Nachwirkungen. Hrsg. von Michael Fahlbusch, Ingo Haar, Anja Lobenstein-Reichmann und Julien Reitzenstein. Berlin: De Gruyter Oldenbourg 2020. 369 Seiten Open Access

by Michael Dallapiazza (Author)
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Journal: Jahrbuch für Internationale Germanistik, Volume 54, Issue: 1, pp. 281-282

Heute von völkischen Wissenschaften, gar einer völkischen Bewegung zu sprechen, scheint nach den (spät begonnenen) Diskussionen der achtziger und neunziger Jahre ein auf den ersten Blick inzwischen historisierbares Phänomen zu benennen, mit dem sich allenfalls die Geschichtswissenschaften selbst zu befassen hätten. Aber sowenig wie Auschwitz historisierbar ist, das man als Resultat völkischer Mentalitäten und Diskursmuster zu sehen hat, sind auch jene noch längst nicht einer mit „Edelrost“ überzogenen Vergangenheit zuzurechnen, (um das Thomas Mannsche Wort in durchaus vergleichbarem Kontext zu benutzen), die weder bewältigt noch wirklich „aufgearbeitet“ worden ist (was Adorno schon 1959 konstatieren musste). Antiliberale, antimoderne Tendenzen, Inklusions- und Exklusionsstereotypen, Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus und sogar Germanenideologien, so zeigen die letzten Jahre, sind keineswegs aus den westlichen Kulturräumen verschwunden, aus den deutschen am wenigsten. Das Wort völkisch kommt in solcherart Diskursen natürlich nicht mehr vor, aber die Mentalität, wie sie etwa in den sog, identitären Bewegungen, um nur ein Beispiel zu nennen, dominiert, ist eben diese. Viele der Beiträge hier nehmen dann auch explizit auf das Fortleben in der neuen Rechten Bezug. Im Jahr 2008 erschien erstmalig das Handbuch der völkischen Wissenschaften, 2017 die zweite erweiterte und überarbeitete Auflage, unter Federführung Michael Fahlbuschs. Der vorliegende Sammelband bietet die Beiträge von zwei Tagungen, die am Friedrich Meinecke-Institut/Berlin anlässlich der 2. Auflage des Handbuchs und einer Folgetagung gehalten wurden. Die Beiträge, so betont das Vorwort, „gehen deutlich über die im Handbuch dargelegten Wissenschafts- und Politikfelder hinaus“, in denen sich die „völkischen“ Wissenschaften etablierten. Wie das Handbuch richten sich auch dieser Band an Historiker, Politik-und Kulturwissenschaftler, in deren Disziplinen es wohl entsprechend gewirkt hat und weiter wirkt, doch sollte es gerade in der Germanistik mit höchster Aufmerksamkeit rezipiert werden, auch wenn nur eine beschränkte Anzahl der behandelten Gegenstände ihr Feld tangiert. Vor allem die ersten beiden Abteilungen „Ursprünge“ und „Ideologien“ sind von stark interdisziplinären, die Germanistik mehr als nur tangierenden Fragestellungen geprägt, und sie belegen auch, dass das „Völkische“ nicht erst im Vorfeld des wilhelminischen Kaisereichs entstanden ist. Dass in diesen Beiträgen vorrangig Historiker zu Wort kommen ist dazu der interdisziplinären Diskussion zuträglich, deren Notwendigkeit immer so sehr betont wird, wie ihr Nichtzustandekommen bedauert. Mit der Niederlage Napoleons und den restaurativen Bewegungen, die sich schon vor dem Wiener Kongress lautstark zu Wort meldeten, begann eine Volkstumsideologie an Einfluss zu gewinnen, die von antifranzösischen wie antisemitischen Tendenzen bestimmt wurde. Wortführer waren neben anderen Ernst Moritz Arndt und Friedrich Ludwig Jahn. Der erste Beitrag von Bernd Fischer Vergebliche Aufklärung. Saul Aschers Kampf gegen Germanomanen behandelt eine Figur, die kaum einem Germanisten mehr geläufig sein dürfte: Saul Ascher, der 1815 mit seiner Schrift Germanomanie einiges Aufsehen erregte. Fischers Darstellung setzt mit Aschers Publizistik vor seiner radikalen Auseinandersetzung mit der völkischen Identitätspolitik der napoleonischen Zeit ein. Im zweiten Beitrag des ersten Teils fragt Christian Jansen Gehören Herder, Arndt, Fichte, Fries und Hundt-Radowsky zur „völkischen Wissenschaft“? Dass die fünf Porträtierten eminent wichtig waren für eine frühe „Radikalisierung nationalistischen Denkens mit Komponenten, die teilweise als völkisch charakterisiert werden können (S. 41) und zu denen noch Friedrich Ludwig Jahn hinzuzufügen ist, kann kaum bestritten werden. Doch wird dem Germanisten die Nachbarschaft von Herder zu Jakob Friedrich Fries, Frühburschenschafter und Wartburgaktivist, auf dessen Fest unter anderem auch Aschers Bücher verbrannt wurden, und zum fanatischen Antisemitismus-Vordenker Hartwig von Hundt-Radowsky Probleme bereiten. Herders Zuordnung zur völkischen Wissenschaft sieht auch der Autor als besonders strittig an, hält aber dennoch daran fest, Herder als den einflussreichsten „Vordenker des deutschen Nationalismus“ zu bezeichnen, dessen Konzeption später für das „Völkische anschlussfähig war“ (S. 41). In Teil II: Ideologien behandelt Ulf-Thomas Lesle Germanistik und Niederdeutsch. Liaison im Schatten eines Essentialismus. In diesem besonders anregenden und materialreichen Beitrag belegt die Kritik von bestimmten Denkmustern und Handlungsschemata, „wie in der Germanistik Sprachgeschichte als Volksgeschichte gedeutet wurde“ und diese Forschungstradition sei in der „Niederdeutschen Philologie um die Jahrtausendwende reaktiviert worden“ (S. 79). Auch wenn jeder der hier versammelten Beiträge Aufmerksamkeit verdient, sind für den germanistischen Leser doch noch einige weiter Arbeiten besonders hervorzuheben, etwa Jörn Retteraths Darstellung der Volkskonzepte in der Völkischen Bewegung zu Beginn der Weimarer Republik, Sebastian Rosenbergers Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“. Eine völkische Geschichtsphilosophie?, sodann und nicht zuletzt wegen seiner Aktualität Sabine Bamberger-Stemmanns Überlegungen Das Volk – Phoenix oder Wiedergänger? Überlegungen zur Attraktivität eines Konstruktes. Eine Miszelle zum Jahr 2019 oder Hans-Henning Kortüms Die langen Schatten der Vergangenheit: Der Historiker Otto Brunner (1898–1982) und die bundesrepublikanische Geschichtswissenschaft (1949–1968). Eine Skizze, zu einem in der germanistischen Mediävistik noch immer populären Historiker. Die Germanistik weiß inzwischen, nach einem allerdings schmerzhaften Lernprozess, dass deutsche Wissenschaftler bei der Legitimierung, der Organisation und Durchführung der NS-Verbrechen eine oft zentrale Rolle spielten. Aufgearbeitet ist aber noch längst nicht alles. Die Frage, ob all das, gewiss nicht nur in der Germanistik, so etwas wie einen wissenschaftsgeschichtlichen deutschen Sonderweg darstellte, der zumindest in den letzten Jahrzehnten zu einem Ende gekommen ist, würde man gerne bejahen. Von Kontinuitäten wird man momentan innerhalb der in Deutschland praktizierten Wissenschaften nicht sprechen können, dass das Völkische unter anderen Namen und in gewissem Umfang wohl auch vulgärwissenschaftlich fortlebt, was viele der hier publizierten Untersuchungen nahelegen, ist aber durchaus beunruhigend.

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2
Year:
2022
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