Die poetische Pädagogik von Grundtvig: Spuren einer dänischen Konzeption von Bildung

Der dänische Dichter, Pfarrer, Historiker, Politiker und Pädagoge N.F.S. Grundtvig (1783–1872) prägte wie wenig andere das kulturelle Selbstverständnis der Dänen über die letzten 200 Jahre. Der Einfluss von Grundtvig – und der Grundtvigianer nach ihm – war in Dänemark so umfassend, dass er bis heute einen zentralen Ausgangspunkt bietet, um zu verstehen, wie Konzepte wie ‚Volk‘, ‚Demokratie‘, ‚Freiheit‘ und Bildung im heutigen Dänemark behandelt werden. Bis heute wirken seine Vorstellungen in der dänischen Gesellschaft und prägen den dänischen Umgang mit aktuellen Ereignissen, seien es die Lockdowns der Corona-Krise oder die steigende Inflation. In Pädagogik und Bildungspolitik spiegeln sich Grundtvigs Vorstellungen von Bildung, Aufklärung, einer Schule des lebendigen Wortes, sowie sein Verständnis von Egalität und Gemeinschaft bis heute. Gleichzeitig sind diese Vorstellungen Grundlage für eine Reihe spezifisch dänischer Schulformen, wie die Højskole, Efterskole und Friskole, die sich bis heute ungeminderter Beliebtheit erfreuen. Als zwischen 2004 und 2009 die dänische Bildungs- und Kulturpolitik im sogenannten kanonprojektet (‚Kanonprojekt‘) eingegrenzt wurde, fanden sich Grundtvigs Schriften neben dem Demokratiekanon auch im Literatur- sowie dem Geschichtskanon wieder. Die beiden letztgenannten sollten richtungsweisende Kanonisierungen für die folkeskole (‚Volksschule‘, eine nur altersdifferenzierte Schule bis zur neunten Klasse) und Gymnasium bilden. Es wäre aber auch nicht Grundtvigs demokratisches Dänemark, wenn es nicht bis heute umtriebige Eltern- und Lehrerbewegungen gäbe, die diese Kanonisierung bekämpfen. Sie halten den Gedanken einer ‚Bruttoliste‘ für nicht tragfähig, zumal diese Liste es für Lehrer bloß erschwert, ihren Schülern zuzuhören, wenn sie über ihre Interessen in der Literatur erzählen, was als die eigentliche Voraussetzung erachtet wird, um eine qualifizierte Auswahl von Büchern zu treffen¹.